Eva Linhart
- Die Sammlung „Buchkunst und Grafik“ im Wechselspiel von Kunstgewerbe, Kunsthandwerk und angewandter Kunst
- Grafikdesign und die Leerstelle angewandte Kunst
- Grafikdesign Denken Sprechen als eine Plattform des Museum Angewandte Kunst Frankfurt zu den Interpretationsmöglichkeiten des Sammlungsauftrags von Buchkunst und Grafik
Grafikdesign aus der Perspektive des Denkens und Sprechens statt des gewohnten Zeigens und Sehens anzugehen, hat für das Museum Angewandte Kunst Frankfurt und seine Abteilung „Buchkunst und Grafik“ im Wesentlichen zwei Gründe. Der eine betrifft das Museum, zu dessen Sammlungsauftrag auch Grafikdesign zählt. Zusammen mit anderen Grafik-Gattungen vom Mittelalter bis in die Gegenwart an medialen Schnittstellen aus kunsthandwerklichen Unikaten bis zu seriell gedruckten Auflagen ordnet das Museum – schon allein aufgrund seiner Bezeichnung – Grafikdesign der angewandten Kunst zu. Der andere Grund hängt mit den Sammlungskriterien zusammen. Nach ihnen im Zusammenhang mit Grafikdesign zu fragen, ruft notwendigerweise kunst- und kulturwissenschaftliche Bewertungsmöglichkeiten auf den Plan. Sie sollen der visuellen Kommunikationsintention von Grafikdesign, seiner bildlich-ästhetischen Produktionsweise und seiner Wirksamkeit gerecht werden. Ihre Aufgabe ist es, die identitätsstiftenden Merkmale von Grafikdesign im Unterschied zur freien bildenden Kunst einerseits und zum Industriedesign andererseits zu fassen.
Warum aber führt die Frage nach möglichen Kriterien für das Sammeln von Grafikdesign der Abteilung „Buchkunst und Grafik“ im Einzugsbereich angewandter Kunst – statt zu neuen Ankäufen für die Sammlung – zur Initiative eines öffentlichen Diskurses im Rahmen der Website-Plattform Grafikdesign Denken Sprechen?
Die Sammlung „Buchkunst und Grafik“ im Wechselspiel von Kunstgewerbe, Kunsthandwerk und angewandter Kunst
Nach Kriterien für das Sammeln von Grafikdesign im Museum Angewandte Kunst Frankfurt zu fragen, bedeutet, die verschiedenen Entwicklungen im institutionellen Selbstverständnis und ihre Auswirkungen auf den Sammlungsauftrag in den Blick zu nehmen. Diese Wechsel im Sammlungsparadigma kommen nicht nur in der mehrmaligen Umbenennung des Museums seit seiner Gründung im Jahr 1877, sondern auch in den verschiedenen Interpretationsansätzen zum Ausdruck. Diese betreffen sowohl den bestehenden als auch den potenziellen Museumsbestand.
In Bezug auf Grafikdesign hat insbesondere die im Jahr 2000 vorgenommene Umbenennung des Museums von Museum für Kunsthandwerk zu Museum für Angewandte Kunst (seit 2012 Museum Angewandte Kunst Frankfurt) eine entscheidende Rolle gespielt. Die Umbenennung war dabei eine Konsequenz des Umstands, dass das Museum in den 1990er Jahren seine Sammlung um den Bereich Design in der Eigenschaft von Industriedesign erweiterte. Die neugegründete Abteilung wurde zugleich mit einer Kustoden- und Kuratorenstelle für Design ausgestattet (Volker Fischer (1951–2020) war von 1994 bis 2012 der erste Abteilungsleiter) und somit um die wissenschaftliche Expertise komplettiert.
Für das Selbstverständnis des Museums bedeutete die Erweiterung ihres Sammlungsspektrums – produktionsästhetisch betrachtet –, dem Konzept des Unikats, für das Kunsthandwerk steht, das Prinzip des Designs gegenüberzustellen. Bei diesem müssen Entwurf und Ausführung nicht in einer Hand liegen und es ist zudem auf eine maschinelle Herstellung hoher Stückzahlen ausgerichtet.
Da „Kunsthandwerk“ allein das Sammlungsspektrum nicht mehr abdecken konnte, wurde zugunsten eines integrativen Oberbegriffs auf die Bezeichnung „angewandte Kunst“ zurückgegriffen.
Diese Namensgebung des Museums steht im Einklang mit anderen Museen, die im 19. Jahrhundert als Museen für Kunst und Industrie oder als Museen für Kunstgewerbe in der Funktion von Vorbilder- oder Mustersammlungen gegründet wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen sie sich in Museen für angewandte Kunst umzubenennen.
Vgl. Eva Linhart: „Buchkunst im Museum“. In: Imprimatur, Neue Folge 14, herausgegeben von Ute Schneider im Auftrag der Gesellschaft der Bibliophilen, München 2015, ISBN 978-3-447-10336-7, S. 147–160. (Die Frage der Museumsumbenennungen vom Kunstgewerbe zur angewandten Kunst wird diese Website ab 10.6.2021 thematisieren.)
Das Frankfurter Museum weist dabei jedoch einen Sonderweg auf. Auch wenn es 1877 ebenfalls als Museum für Kunstgewerbe gegründet wurde, um die sich industrialisierende Gesellschaft für Formfragen zu sensibilisieren, so war es keine staatlich initiierte Gründung von „oben“, sondern eine aus der Zivilgesellschaft heraus ins Leben gerufene Privatinitiative der Frankfurter Bürgerschaft.
Matthias Wagner K: „Das Kunstgewerbemuseum in Frankfurt am Main (heute: Museum Angewandte Kunst)“. In: Moderne am Main 1919–1933, herausgegeben von Klaus Klemp, Anika Sellmann, Matthias Wagner K und Grit Weber, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-89986-303-1, S. 133–139. Siehe auch Ulrich Schneider: „Das Museum für Angewandte Kunst Frankfurt. Gründungs- und Baugeschichte“. In: Der Museumsführer, Köln und Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-86832-064-0, S. 6–9.
Dabei handelte sie im Sinne der kunstemanzipatorisch-bürgerlichen Ideale der Aufklärung.
Jochen Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Bd. 1, Darmstadt 1985, S. 4 ff. Hier auch wie folgt: „Das bürgerliche Emanzipationsstreben, welches das ganze 18. Jahrhundert durchzieht und es auch literarisch prägt, war ein Streben nach sozialer, rechtlicher, weltanschaulicher und politischer Freiheit und Unabhängigkeit. Notwendigerweise war dieses Emanzipationsstreben gegen die herrschende Staats- und Gesellschaftsform gerichtet, in welcher König, Adel und Klerus dominierten. Auf den literarischen Bereich übertragen hieß das nicht nur, daß die Schriftsteller die Interessen und die Gefühlshaltungen des in der geltenden ständischen Ordnung unterprivilegierten Bürgertums zum Gegenstand ihres Schaffens machten. Sie vollzogen, indem sie ihre eigene Rolle als Dichter neu interpretierten, den bürgerlichen Emanzipationsprozess prototypisch an sich selbst. Der Weg vom Untertan zum freien, unabhängigen, nur auf seine eigene Leistungskraft gestellten Bürger – das ist auch der Weg vom Hofdichter und vom poetisch kompetenten Mitglied der Gelehrtenzunft zum autonomen, sein Selbstbewußtsein ganz auf seine Schöpferkraft gründenden Dichter. Die Genie-Proklamationen, in denen die literaturästhetische Entwicklung des 18. Jahrhunderts gipfelt, sind Manifestationen des unabhängig gewordenen, oft genug auch nur Unabhängigkeit ersehnenden, auf seine eigenen produktiven Energien stolzen bürgerlichen Menschen, der keine andere Autorität mehr anerkennt.“
Dass die Neugründungen dieses Museumstyps im 19. Jahrhundert unter dem Begriff „Kunstgewerbe“ stattfanden, hatte seinen Grund darin, dass Gebrauchsgegenstände und ihre Erscheinungsweisen nun unter einen künstlerischen Anspruch gestellt wurden. Tendenziell deckt Kunstgewerbe vor allem die Produktion von exklusiven Serien ab. Auch wenn damit die Idee der Manufaktur präferiert ist, so schließt sein Konzept dennoch eine maschinelle oder auch eine industrielle Herstellungsweise nicht aus. Für die Einführung von Kunstgewerbemuseen war stattdessen vielmehr die Vorstellung entscheidend, dass über eine kunstvolle Gestaltung von Gebrauchsgegenständen die als hässlich empfundene Lebenswelt des angebrochenen Industriezeitalters verschönert und verbessert werden könne.
Vgl. Gunther Oesterle: „Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente. Kontroverse Formprobleme zwischen Aufklärung, Klassizismus und Romantik am Beispiel der Arabeske“. In: Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert, herausgegeben von Herbert Beck, Peter Bol und Eva Maek-Gérard, Berlin 1984, ISBN 978-3-7861-1400-5, S. 119–139.)
Daher mündete das Konzept des Kunstgewerbes in der Gründung von Museen als Vorbildersammlungen. In dem Maße, wie der Begriff Kunstgewerbe die Wirtschaft und den Handel einschloss, war er zugleich eine ästhetische und eine ökonomische Größe. Die Gründungen von Kunstgewerbemuseen verstanden sich als eine praktisch-konstruktive Antwort auf real empfundene gesellschaftliche Missstände. Insofern verkörpern diese Museen Lösungsansätze, die eigens für die Industrialisierung entwickelt wurden und zu deren Gelingen sie integrativ beitragen wollten.
Als 1936 das Museum in Museum für Kunsthandwerk umbenannt wurde, war es seit 1925 nicht mehr privat, sondern ein kommunales Institut der Stadt Frankfurt am Main. Bereits vier Jahre zuvor, seit 1921, begann das Museum zudem über die hochwertige Linel-Sammlung zu verfügen, die sich aus den beiden bibliophil ausgerichteten Sammlungen der Brüder Michael und Albert Linel zusammensetzt. Aus ihrem umfangreichen Bestand vom späten Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert aus Stundenbüchern
, Inkunabeln
, Stammbüchern
oder Schreibmeisterbüchern
sowie Preziosen des Buchdrucks
und der Buchgestaltung
ging die Abteilung „Buch- und Schriftkunst“ hervor. Heute trägt sie den Namen „Buchkunst und Grafik“. Dass diese Abteilung eingerichtet wurde, war nicht zuletzt auch dem Anliegen geschuldet, dem Ruf Frankfurts als Buchmessestadt mit einer entsprechenden Museumssammlung gerecht zu werden. Der Buchbestand des Museums wurde darüber hinaus zugunsten der Vorbildersammlung um zahlreiche Ornamentstiche
und Vorlageblätter
erweitert. Damit sind Musterentwürfe in Form von druckgrafischen Reproduktionen gemeint, die Gestaltungsempfehlungen für Interieurs mit schönen Gebrauchsgegenständen
oder für die Bestückung von Ornamenten
darstellen. Sie repräsentieren die verschiedenen internationalen, vor allem europäischen Formstile vom 15. bis zum 20. Jahrhundert und sind als Vorstufen auf dem Weg zum Design und seiner heutigen gesellschaftsästhetischen Relevanz zu bewerten.
Der Museumsname „Kunsthandwerk“ war eine Folge des 1935 in Frankfurt am Main stattfindenden „Reichshandwerktags“ und der Verleihung des Beinamens Stadt des deutschen Handwerks. Die Konsequenz war, dass mit der Umbenennung in Kunsthandwerk das Museum eine anti-industrielle Position annahm. Denn die Kategorie Kunsthandwerk avancierte – anders als Kunstgewerbe – im Zuge der Industrialisierung zu einem ideologischen Gegenmodell. Gegenüber einer seelenlosen, weil maschinell ausgeführten Massenproduktion bekam das Kunsthandwerk im 19. Jahrhundert den Stellenwert eines authentisch-subjektiven künstlerischen Ausdrucks. Aufgrund der Fertigung mit der Hand in Kombination mit der Eigenschaft des Materials und dessen meisterlicher Beherrschung entstanden und entstehen Unikate, die als solche ein Kunstprädikat verkörpern, das mit der Aura des einmaligen und außerordentlichen Originals aufgeladen ist.
Den exponiertesten Ausdruck fand diese Haltung wohl im Arts and Crafts Movement. Siehe Gillian Naylor: The Arts and Crafts Movement. A Study of Its Sources, Ideals, and Influence on Design Theory, Cambridge (Mass.) 1980, ISBN 978-0262-64018-3; vgl. auch die Angaben des Victoria & Albert Museum in London.
Zum Verhältnis von Kunstwerk und Aura: Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 2015, ISBN 978-3-518-10028-9, S. 11 ff.
Das Ideal des Menschen als eines einzigartigen Subjekts im Sinne seiner Einheit und Ganzheitlichkeit sowie seiner Persönlichkeitskomplexität spiegelte sich – nun in Opposition zu einer industrialisierten Produktionsweise – in der Kategorie Kunsthandwerk wider.
Den Aspekt der Verbindung von Kunst und gesellschaftlicher Opposition als mögliche Strategie des Selbstverständnisses von Grafikdesign behandelt diese Website ab 9.12.2021 mit der Frage: Warum kennen wir keine verkannten Grafikerinnen und Grafiker? (Oder warum macht die gesellschaftskritische Kategorie „verkanntes Genie“ in Bezug auf Grafikdesign keinen Sinn?); zur Kunstkategorie Kunsthandwerk entsteht derzeit am Museum Angewandte Kunst Frankfurt unter Leitung von Dr. Sabine Runde, Oberkustodin und Kuratorin Kunsthandwerk, die Ausstellung „Kunsthandwerk ist Kaktus“. Sie wird nicht nur den Bestand des Museums nach 1945 zeigen, sondern lässt auch im Katalog verschiedene Autorinnen und Autoren die heutige Relevanz von Kunsthandwerk hinterfragen und problematisiert das Potenzial von Kunsthandwerk im digitalen Zeitalter. Die Ausstellung wird am 24.9.2021 eröffnet.
Für die Abteilung „Buchkunst und Grafik“ bedeuteten beide Museumsumbenennungen – sowohl die vom Kunstgewerbe zum Kunsthandwerk als auch die vom Kunsthandwerk zur angewandten Kunst – eine Verschiebung der Perspektive, von der aus die Objekte interpretiert werden konnten: Jede Bezeichnungsänderung bedingte eine jeweils neue Sichtweise darauf, was Buch- und Schriftkunst bzw. Grafik auch als Druckgrafik sein kann.
Aus der Konzentration auf eine kunsthandwerkliche Herstellung heraus präferierte das „Museum für Kunsthandwerk“ eine Sichtweise etwa auf das Buch, die sich auf die Könnerschaft konzentrierte: die meisterliche Beherrschung des Materials im Sinne einer Ästhetisierung im Geiste der Bibliophilie. Damit war das Medium Buch nicht in der Dimension eines gedruckten Verbreitungs- und Kommunikationsmediums gefragt. Stattdessen bildete die kunsthandwerkliche Ausgestaltung der Schrift und des Buchsatzes den Qualitätsmaßstab. Dieser schloss zugleich die herausragende Leistung der Druck- und Papierqualität, des Einbands, der Bindung sowie der ornamentalen, illustrativen und jeder sonstigen bildnerischen Ausstattung ein.
Eva Linhart: „Buchkunst im Museum“. In: Imprimatur, Neue Folge 14, herausgegeben von Ute Schneider im Auftrag der Gesellschaft der Bibliophilen, München 2015, ISBN 978-3-447-10336-7, S. 147 ff.
Diese interpretatorische Ausrichtung beeinflusste auch die in den 1980er Jahren neu eingeführte Sammlungsgruppe der Künstlerbücher. (Diese neue Buchkunstsparte bekam jedoch keine eigene Signatur, sondern wurde als Unterabteilung Linel-Sammlung Neue Buchkunst Zusatz (LNBZ) eingegliedert.) Dabei handelt es sich um Bücher, mit denen Künstlerinnen und Künstler die Frage stellen, was Buch als Kunst sein kann. Aus der Perspektive des „Museums für Kunsthandwerk“ galt als Kriterium vor allem ihre Gestaltung in Abhängigkeit vom Material und dessen künstlerischer Bearbeitung. Publizistisch-konzeptionelle oder kunstkritisch-reflexive Ansätze hingegen, wie sie für Künstlerbücher im Zusammenhang der Minimal Art oder Concept Art der 1960er Jahre entstanden waren, spielten für die Museumssammlung bis zum Jahr 2000 keine Rolle.
Eva Linhart: „Das Künstlerbuch als ein performativer Kunstraum. Das Unikat-Künstlerbuch und das Museum für Angewandte Kunst“. Vortrag im Rahmen der Konferenz Unicum, das Unikat-Künstlerbuch – Phänomen oder Paradox (Bern, 21.–22. November 2014), online hier. Vgl. auch: Dies.: „Künstlerbücher. Das Buch als mobiler, begreifbarer und autonomer Kunstraum“. In: 172 neue Buchobjekte. Buchkunst und Grafik im Museum Angewandte Kunst weitergedacht, Frankfurt am Main 2017, ISBN 978-3-88270-121-8, S. 12 f., Download.
Insbesondere am Beispiel des Plakats lässt sich die Verschiebung der Sammlungskriterien von einem „Museum für Kunsthandwerk“ zum „Museum für Angewandte Kunst“ gut veranschaulichen. Denn, wenn auch das Museum im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts Plakatausstellungen veranstaltete (so zeigte es zum Beispiel vom 8.9. bis 26.9.1965 Französische Plakate, vom 7.12.1989 bis 8.4.1990 Japanische Plakate, vom 16.9.1995 bis 4.2.1996 Exchange Günther Kieser, Plakate im Museum und vom 1.12.1996 bis 13.4.1997 Uwe Loesch: Zeitraffer, Kalender und Kalender; die letzten drei genannten Ausstellungen kuratierte Dr. Stefan Soltek, der nach Dr. Eva Maria Hanebutt-Benz von 1988 bis 2002 die Abteilung „Buchkunst und Graphik“ leitete) und sogar eine Sammlung mit Plakaten im Bereich Kulturwerbung anlegte, so gehörte diese Grafik-Kategorie nicht zum offiziellen Sammlungsbestand. Oder anders gesagt: Plakate mit dem Schwerpunkt Kulturwerbung wurden lediglich inoffiziell gesammelt. Daher wurde für sie weder eine Inventarkennzeichnung eingeführt, noch wurden entsprechende Depots eingerichtet. Da Plakate mehrheitlich nach dem Design-Prinzip für die Produktion größerer Auflagen entstehen und kein Kunsthandwerk in der Anbindung an das Unikat sind, war die Entscheidung, sie nicht entschiedener in den Sammlungskanon des „Museums für Kunsthandwerk“ aufzunehmen, logisch und konsequent.
Die Umbenennung des Museums in Museum für Angewandte Kunst im Jahr 2000 aufgrund der Erweiterung seiner Sammlung um Industriedesign bedeutete für die Abteilung „Buchkunst und Grafik“ eine Öffnung in Richtung Grafikdesign. Damit begann die medial-technische Gegenwart einschließlich digitaler Tendenzen eine explizite Rolle zu spielen. Ihre Formungs- und Reproduktionsansätze zielen dabei nicht primär auf die Exklusivität kleiner Auflagen oder Unikate. Im Unterschied dazu verkörpert das Potenzial von Grafikdesign den Anspruch auf eine kommunikative Breitenwirkung zugunsten der gesellschaftlichen Pluralität – sei es in Form von Plakaten, verlegten Büchern oder einer sonstigen medialen Ausformung.
Doch die neue Namensgebung leistete mehr als nur eine additive Ausdehnung des Bestandes um Grafikdesign. Denn indem die Sammlung nun unter den Begriff der angewandten Kunst gebracht wurde, entstand zugleich ein grundsätzlich anderes Interpretationsparadigma hinsichtlich der Frage, was „Buchkunst und Grafik“ sein kann.
Dies gilt insofern, als der Bereich „Buchkunst und Grafik“ mit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern um 1450 durch Johannes Gutenberg das Potenzial des Reproduktiven an sich impliziert. Die Erfindung von immer neuen Verfahren beschleunigte sich zudem in der Folgezeit und schloss auch die Entwicklung günstiger Beschreibstoffe ein.
Vgl. Eva Maria Hanebutt-Benz: Die Kunst des Lesens. Lesemöbel und Leseverhalten vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Ausstellungskatalog Museum für Kunsthandwerk Frankfurt am Main, 1985, ISBN 978-3-88270-026-2, S. 55 ff.
Daher konnte die kunsthandwerkliche und auch die kunstgewerbliche Interpretationsperspektive nur bestimmte Aspekte der Entwicklung zur Wissensgesellschaft im Bereich „Buchkunst und Grafik“ und ihrer medial-kommunikativen Möglichkeiten abdecken. Oder anders gewendet: Im Unterschied zum Kunstgewerbe und zum Kunsthandwerk zielt angewandte Kunst weder auf eine bestimmte noch auf überhaupt eine Produktionsform ab. Vielmehr artikuliert der Begriff lediglich eine Kunst, deren Spezifik sich in dem Umstand einer „Anwendung“ realisiert. So vermag angewandte Kunst in produktionsästhetischer Hinsicht als ein integrativer Oberbegriff aufzutreten. Als solcher deckt er alle Herstellungsweisen ab bzw. schließt keine aus: Kunstgewerbe als serielle Produktion via Manufaktur, Kunsthandwerk als Herstellung von Unikaten mittels Handarbeit und Design, bei dem Idee und Ausführung nicht in einer Hand liegen müssen und der Entwurf auf die maschinelle Produktion von Stückzahlen ausgerichtet ist.
Die Offenheit des Begriffs angewandte Kunst hinsichtlich der Herstellungsverfahren führt in seiner Konsequenz für die Sammlung „Buchkunst und Grafik“ dazu, dass keine Hierarchie zwischen Unikat, kunstgewerblicher Produktion in Serie oder hohen industriellen Auflagen vorgenommen wird. Vielmehr spielen der Materialwert und der Aspekt der Reproduktion erst in Bezug zur Idee und deren Gestaltungskontext eine Rolle. Als künstlerisch-gestalterische Möglichkeitsformen werden im heutigen Museum Angewandte Kunst – zumindest vom Anspruch her – alle Grafik-Kategorien gleichwertig gesammelt und auf ihre ästhetisch-gesellschaftliche Relevanz hin untersucht.
Dabei lässt der Bezug von medialen und grafischen Ausdrucksformen aufeinander im Kontext ihrer Anwendungsfunktionen historische Entwicklungslinien entdecken.
So können etwa die illuminierten Handschriftenunikate des späten Mittelalters als kostbar ausgestattete Stundenbücher
für Laien auf ihre Rolle für die Entstehung der Idee des Taschenbuchs hin betrachtet werden. Da sie für den städtischen Kommunikationsraum und nicht für den Klerus und seine klösterliche Abgeschiedenheit bestimmt waren, erhielten sie die Gebrauchsfunktion, im Rhythmus von drei Stunden zu beten und diese „Frömmigkeit“ zugleich prestigeträchtig im Sinne des Sehens und Gesehen-Werdens auszugestalten. Dafür wurde die Buchform des Kodex – ein Buchblock aus gehefteten Blättern zwischen zwei Platten – vor allem in kleineren und für die Intimität der Versenkung geeigneten Formaten eingesetzt. Nicht selten wurden diese handgerechten Buchobjekte zudem mit einem Buchbeutel als kostbares Accessoire
versehen. Tasche und Buch erfuhren hier ihre erste Annäherung.
Ein anderes Beispiel führt uns zur Idee der Vernetzung, die unseren heutigen Alltag in Form sozialer Netzwerke bestimmt und die sich aus dem Prinzip des Buchdrucks und seiner Vervielfältigungspraxis heraus ableiten lässt. Gemeint sind die Alben der Freundschaft
, die ursprünglich Stammbuch oder Album Amicorum und später Souvenir d’amitié hießen. Mit ihnen entwickelte sich eine Sitte der persönlichen Einträge, die vom 15. bis ins 19. Jahrhundert Begegnungen auf Reisen festhielten und unter dem Ideal der Solidarität ein Denkmal in Buchform setzen wollten. Dass diese Freundschaftsalben zugleich ein Erinnerungsmedium zugunsten der Ausprägung der eigenen Persönlichkeit sein wollten und in emanzipatorischer Absicht die Demokratisierung im Deutschen Reich begleiteten, ist ein weiterer Aspekt. Die damit einhergehende Vorgehensweise, Freundschaften zu sammeln, legt einen Vergleich zur heutigen Praxis im Internet nahe.
Eva Linhart: „Vom Stammbuch zum Souvenir d’amitié. Deutscher Schicksalsfaden“. In: Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken, Ausstellungskatalog Museum für Angewandte Kunst Frankfurt und Museum für Kommunikation, Köln 2006, ISBN 978-3-87909-892-7, S. 202–243. Hier der Versuch einer Neubewertung des Stammbuchs und seiner Solidarisierungssitte, die mit den heutigen sozialen Netzwerken im Internet vergleichbar ist. Die Stammbuchsitte wäre nicht ohne das Vervielfältigungspotenzial des Buchdrucks entstanden. Sie transformierte sich dann aber zum emotionalisierten Ausdruck im Sinne der Singularität und Authentizität des widmenden Subjekts in Form von Handschrift und schließlich von Handarbeit im Medium eines aus leeren Seiten bestehenden Oktav-Querformats als Reiseutensil. Der Artikel zeichnet auch die damit verbundene Ästhetisierung der Gesellschaft im Deutschen Reich im Geiste humanistischer Ideale sowie emanzipatorischer Prozesse entlang des Mediums Buch nach. Die Stammbuch-Sammlung des Museum Angewandte Kunst zählt zu den größten und liefert einen guten Überblick über die Entwicklung dieser Sitte.
Grafikdesign und die Leerstelle angewandte Kunst
So positiv zwar der Begriff angewandte Kunst aufgrund seiner hierarchiefreien Offenheit bezüglich möglicher Gestaltungs- und kunstvoller Produktionsverfahren ist, so stellt sich zugleich die Frage, in welcher Weise er darüber hinaus auch tauglich ist, Grafikdesign zu spezifizieren. Die Suche danach führt zu drei Sachverhalten, die den Status angewandter Kunst heute bestimmen: Erstens erfüllt der Begriff angewandte Kunst eine Rolle der Abgrenzung gegenüber der freien Kunst; zweitens ist die angewandte als die nicht freie Kunst der negative Part einer polaren Hierarchie, welche die Freiheit zum alleinigen Bezugspunkt der Kunst erklärt hat; und drittens ist als eine Konsequenz des Umstands, dass angewandte Kunst der generellen Bewertung untersteht, keine richtige Kunst zu sein, das Fehlen einer kulturwissenschaftlichen Rezeption festzuhalten.
Die Funktion der Abgrenzung bildete sich im Zeitalter der Ästhetiken ab 1750 als Folge der Singularisierung der Künste zu „der Kunst“ aus, um zunächst die nicht freie als dienende Kunst zu bezeichnen.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesung über die Ästhetik, I, Werke 13, 14. Auflage, Frankfurt am Main 2017, ISBN 978-3-518-28213-7, S. 20. Hier wie folgt: „Was erstens die ,Würdigkeit‘ der Kunst betrifft, wissenschaftlich betrachtet zu werden, so ist es allerdings der Fall, daß die Kunst als ein flüchtiges Spiel gebraucht werden kann, dem Vergnügen und der Unterhaltung zu dienen, unsere Umgebung zu verzieren, dem Äußeren der Lebensverhältnisse Gefälligkeit zu geben und durch Schmuck andere Gegenstände herauszuheben. In dieser Weise ist sie in der Tat nicht unabhängige, nicht freie, sondern dienende Kunst. Was ,wir‘ aber betrachten wollen, ist die auch in ihrem Zwecke wie in ihren Mitteln ,freie Kunst‘. Daß die Kunst überhaupt auch anderen Zwecken dienen und dann ein bloßes Beiherspielen sein kann, dieses Verhältnis hat sie übrigens gleichfalls mit dem Gedanken gemein. Denn einerseits läßt sich die Wissenschaft zwar als dienstbarer Verstand für endliche Zwecke und zufällige Mittel gebrauchen und erhält dann ihre Bestimmung nicht aus sich selbst, sondern durch sonstige Gegenstände und Verhältnisse; andererseits aber löst sie sich auch von diesem Dienste los, um sich in freier Selbständigkeit zur Wahrheit zu erheben, in welcher sie sich unabhängig nur mit ihren eigenen Zwecken erfüllt.“
So, wie etwa der Gegenspieler eines Museums für Kunsthandwerk die Industrialisierung als die seelenlose Produktion von Massenware war, so ist es bei einem Museum für angewandte Kunst die Autonomie, die das Ideal der freien Kunst bestimmt und den Begriff des Angewandten daher als das Negativ der Freiheit voraussetzt. Aus diesem Umstand folgt dann die radikale Hierarchisierung zwischen freier und angewandter Kunst. Die Zweiteilung der Kunst in eine freie und eine angewandte ist dabei alles andere als neutral. Denn so sehr der Begriff der freien Kunst vom Prädikat der Freiheit geprägt ist, so sehr ist der Begriff des Angewandten davon bestimmt, als eine nicht freie Kunst keine richtige Kunst zu sein. Diese Bewertung hatte nachhaltige Konsequenzen, und diese bestimmen bis heute den Diskurs bzw. das heutige nicht vorhandene positive Bewusstsein hinsichtlich der angewandten Kunst und ihrer ästhetischen Sinnstiftung. Denn ihre Einordnung als nicht freie Kunst hat zur Folge, dass für diese „Kunstsparte“ weder eine Geschichte noch eine Begriffsgeschichte oder gar eine Ästhetik vorliegen. Angewandte Kunst gehört nicht zum Kanon des Studiums der Kunstgeschichte oder der Philosophie, und an den Hochschulen für Gestaltung wird auch keine Geschichte der angewandten Kunst gelehrt, sondern entweder eine der Gestaltung – die sich überwiegend am Design orientiert – oder die der freien bildenden Kunst. Und obwohl die meisten Akademien oder Hochschulen für Kunst und Gestaltung über Professuren für Ästhetik verfügen, konzentriert sich ihr Spektrum auf das Verhältnis von Design und Kunst.
Daher sind Museen mit dem Sammlungsauftrag angewandte Kunst gegenwärtig die einzigen Kulturinstitutionen, die aufgrund ihres Namens den Legitimationsdruck verspüren können, ihren Status als Orte für die „nicht richtige Kunst“ zu ändern. Um das, was der Begriff angewandte Kunst gegenwärtig abdeckt, positiv zu füllen und zu besetzen, ist die hiesige Plattform initiiert worden und lädt alle mit diesem Thema in Verbindung stehenden Institutionen, Instanzen und Fachleute ein, sich am Diskurs zu beteiligen. Oder anders gewendet: Die „Lücken“ in der kulturwissenschaftlichen Rezeption hinsichtlich der angewandten Kunst in ihren interessensmotivierten Erscheinungsformen und intentionalen Bildlichkeiten erklären, warum gerade wir als ein Museum, das sich auf die angewandte Kunst konzentriert, das Thema Grafikdesign zu reflektieren sucht. Daraus folgt zwangsläufig, dass wir zugleich den Begriff der angewandten Kunst einer kritischen Prüfung unterziehen müssen.
Grafikdesign Denken Sprechen als eine Plattform des Museum Angewandte Kunst Frankfurt zu den Interpretationsmöglichkeiten des Sammlungsauftrags von Buchkunst und Grafik
Museen sind in ihrem Grundsatz Institutionen, die sich über Sammlungen und ihre jeweiligen Sammlungsaufträge definieren. Diese werden mit und in den Ausstellungen von spezialisierten Kustodinnen und Kustoden in der Funktion einer kritischen Bewertungsinstanz zwischen den zu zeigenden Exponaten und der Öffentlichkeit interpretiert und kuratiert. Was ist aber, wenn die Interpretationswerkzeuge, die uns die kulturwissenschaftliche Tradition und ihre Diskurse bereitstellen, nur unzureichend greifen, weil sie für unser Sehen und Verstehen von Grafikdesign unzulängliche begriffliche Einordnungsparameter liefern? Und wenn darüber hinaus hinzukommt, dass wir kulturell so konditioniert sind, dass wir das, was wir sehen, zugunsten eines vermeintlich höheren Ziels für nicht „wesentlich“ erachten? Dies ganz im Sinne der Diagnose von Christof Windgätter, dass das Buch eine elementare Blackbox unserer Kultur sei: „sind wir doch seit unserer Alphabetisierung auf Schulbänken und in Seminarräumen daran gewöhnt, keine Drucksachen zu sehen, sondern Inhalte zu erschließen.“
Christof Windgätter: „Epistemogramme. Vom Logos zum Logo in den Wissenschaften“, Vortrag an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, herausgegeben von Julia Blume und Günter Karl Bose, Leipzig 2012, ISBN 978-3-932865-69-5, S. 12 f.
Wie soll auf der Grundlage einer solchen kulturellen Konditionierung eine Rezeption von Grafikdesign via Ausstellung überhaupt möglich sein? Außerdem: Was bedeutet es für die reflexive Rezeption von Grafikdesign, wenn die Interpretationspraxis immer nur endlos zwischen Kunst und Design hin und her pendelt? Wird damit die spezifische Wirkungsweise von Grafikdesign – die intentionale Bildlichkeit im Kontext der Lebenspraxis – nicht übersehen und lediglich second hand verhandelt?
Es ist das Anliegen dieser Website als einer Plattform des Museum Angewandte Kunst Frankfurt, im Sinne eines öffentlichen Aushandlungsorts das Bewusstsein für die Paramater zwischen freier bildender und angewandter Kunst zu schärfen: für ihre kulturwissenschaftlichen Herleitungen und die damit verbundenen gesellschaftlichen Motivationen für die herkömmliche Einordnung von Grafikdesign als Gebrauchsgrafik, die Inhalten Form gibt. Der Fokus liegt auf der Frage nach der Geschichte der heutigen Argumentationskriterien hinsichtlich Grafikdesign, ihren Hierarchisierungen sowie – daraus resultierend – nach einer argumentativen Neuorientierung. In der Summe geht es darum, für den Sammlungs- und Ausstellungsauftrag des Museums eine begründete Interpretationsbasis zu entwickeln. Allein der Umstand, nach der „eigenen“ Wirkungsmacht von Grafikdesign zu fragen und eine „selbstständige“ Betrachtungsweise zu fordern, ist bereits ein Schritt, der Unterordnung unter Kunst und/oder Design entgegenzuwirken.
Dabei geht es um keine normativen oder definitorischen Ziele im Sinne von „Grafikdesign soll“ oder „Grafikdesign ist“. Vielmehr stellen wir mit diesem Diskurs die Frage nach den Denkmöglichkeiten zu Grafikdesign, um seine visuell-kommunikative Rolle und Wirkungsrelevanz adäquat einordnen zu können. Es geht um die große und komplexe Spannweite des Grafikdesigns aus produktions- und wirkungsästhetischen Parametern. Dazu zählen hinsichtlich des Entwurfs Aspekte wie subjektive Autorenschaft, objektive Informationsvermittlung sowie Bedeutungshoheit als Einzelwerk oder Teamwork im Einzugsbereich von ökonomischen, technischen oder sozialen Bedingungen. Fragen nach den Präsenz- und Präsentationsstrategien von Grafikdesign schließen sich an. Auf welche Weise und über welche Medien bildet das Grafikdesign die Öffentlichkeit und wie bestimmt der öffentlichkeitschaffende Anspruch die designgrafische Bildlichkeit?
Dass hierbei eine Kooperation von Kunstwissenschaft und praktiziertem Grafikdesign stattfindet (siehe ab 11.3.2021: Warum und wie orientiert sich Grafikdesign an der Kunst? Sandra Doeller und Eva Linhart im Gespräch), ist für den Diskurs, dessen Reflexionspotenzial und erkenntniskritische Dynamik eine notwendige Voraussetzung. Denn ohne die Bezüge aus Theorie und Praxis aufeinander wäre eine jeweilige kritische Betrachtung und ihre Überprüfung als unmittelbares Korrektiv im dialogischen interdisziplinären Austausch nicht möglich.
Das eigentliche Korrektiv in der Bedeutung einer dritten Instanz wird jedoch die öffentliche Rezeption der Website sein. Wie wird sich der Diskurs zu einem Sammlungsschwerpunkt dieses Museums in der Form einer Website bewähren? Wie wird die Kooperation von Theorie und Praxis bei den Museumsbesuchenden via digitale Plattform ankommen? Wie erweitert die digitale Plattform das Potenzial eines Museumsbesuchs, wenn weder die visuelle Attraktion von Objekten angewandter Kunst noch die Übertragung von Diskussionen zur angewandten Kunst, sondern ein Diskurs als ein offener Prozess zum Denken und Sprechen über Grafikdesign das Anliegen ist? In diesem Sinne hat der Versuch, die Sammlungs- und Ausstellungskategorie „Grafikdesign“ im Rahmen einer Website des Museums Angewandte Kunst zu problematisieren, experimentelle Züge.
Es beginnt damit, dass mit der Website der Prozess der Bestimmung von Kriterien für das Sammeln öffentlich präsent sein wird. Dabei wird auch der Umstand eine Rolle zu spielen haben, dass die Sammlung „Buchkunst und Grafik“, die aus der Linel-Sammlung hervorgegangen ist, sich bis heute nach Gattungskriterien strukturiert, die einem aus dem 19. Jahrhundert tradierten, positiven Wissenschaftsideal verpflichtet sind. Oder anders gewendet: Nachdem der Gattungsbegriff als alleinige Zuordnungsinstanz für Objekte nicht mehr ausreicht, weil sich – wie es die oben skizzierte Museumsgeschichte andeutet – die Parameter im 20. Jahrhundert zu verschieben begonnen haben, stellt sich die Frage nach den Kriterien für das Sammeln von Buchkunst und Grafik unter der jetzigen Interpretationsperspektive als angewandte Kunst neu.
Die Website und ihr Projekt Grafikdesign Denken Sprechen möchten die Öffentlichkeit an der Bildung von Kriterien für den Sammlungsauftrag des Museums teilhaben lassen. Dient das Jahr 2021 in seiner ersten Phase zur Einführung und Beschreibung der Problematik, steigen wir 2022 mit verändertem Modus und neuem medial erweiterten Webauftritt in die Phase des Diskurses mit Beiträgen von Theoretiker:innen und Praktiker:innen verschiedener Disziplinen ein. Das Museum als Möglichkeitsraum erweitert mit diesem Website-Diskurs seine Reichweite von einem analogen Aushandlungsort zu einer immer verfügbaren Internetplattform. Indem damit zugleich der Sammlungsauftrag hinsichtlich des Grafikdesigns öffentlich thematisiert wird, aktualisiert sich das Museum nicht zuletzt auch in Richtung demokratischer Transparenz bezüglich der Bildung seiner Sammlungskriterien.
Nach Abschluss der dreijährigen Projektphase wird auch dies auszuwerten und das neue Format für einen Museumsbesuch als öffentlicher Aushandlungsraum zu überprüfen sein. Die Art und Weise ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt offen bzw. wird sich aus den kommenden Entwicklungen ableiten.