Daniel Feige und Eva Linhart
Lieber Daniel,
vielen Dank, dass wir im Rahmen des Projekts Grafikdesign Denken Sprechen einen Dialog via E-Mail zur Frage „Warum ist Grafikdesign anders als Industriedesign?“ führen können.
Dass ich dieser Frage gerade mit Dir nachgehen möchte, hat mit Deiner wissenschaftlichen Position hinsichtlich „Design und Ästhetik“ zu tun. In diesem Zusammenhang möchte ich Deine Publikation Design. Eine philosophische Analyse von 2018 nennen.
Daniel Martin Feige: Design. Eine philosophische Analyse, Berlin 2018, ISBN 978-3-518-29835-0.
Entscheidend dabei ist, dass Du sowohl Kunst als auch Design an das Ästhetische bindest, jedoch jeweils unter anderen und eigenen Bedingungen. Das Unterscheidungskriterium von der freien Kunst gegenüber Design begründest Du ganz im Sinne des Begriffs der angewandten Kunst – ästhetisch klassisch – über den Gebrauchszweck. Im Unterschied zur Logik der angewandten Kunst siehst Du jedoch die ästhetische Relevanz von Design und das ihm innewohnende Verhältnis aus Form und Funktion nicht von der autonomen Kunst abhängig. Stattdessen beschreibst Du Design als „eine ästhetische Form der Welterschließung“ (ebd., S. 9) und verknüpfst sie mit der ästhetischen Praxis. Damit wird bei Dir das Funktionieren selbst ästhetisch.
An diesem Punkt beginnt meine eigentliche Frage an Dich: Konstituiert sich das Funktionieren von Objekten (Gegenständen) des Industriedesigns nicht völlig anders als das von Grafikdesign? Das meine ich in dem Sinne, dass – um Dein Beispiel des Plakats aufzugreifen – seine Erscheinung als Grafikdesign nicht zwingend die Konsequenz einer praktischen Aktivität des Gebrauchens ist. Sie ist nicht, wie etwa bei einem Stuhl, einem Rasierer oder einer Vase, eine konkret-tektonische Antwort auf die Erfordernisse des Sitzens, Rasierens oder Konservierens und Präsentierens von Schnittpflanzen, aus denen sich dann die weitere Gestaltung nach dem Prinzip form follows function ableitet. Vielmehr greift beim Grafikdesign eine eigene Form des Funktionierens. Wie siehst Du das?
Liebe Eva,
ich freue mich auf unser Gespräch!
Ja, das ist mein Versuch: die Kontinuität wie Diskontinuität von Kunst und Design derart zu denken, dass es sich in beiden Fällen um ästhetische Gegenstandsbereiche handelt, die aber nicht in einem Verhältnis der Über- oder Unterordnung stehen. Es scheint mir etwas ganz falsch an dem Gedanken zu sein, Design als schlechtere (oder bessere) Kunst zu betrachten oder vice versa. Obwohl es komplexe Austauschprozesse zwischen beiden Bereichen gibt und auch wenn sie in einem dialektischen Verhältnis stehen (sie bestimmen sich auch wechselseitig dadurch, dass sie sich voneinander abgrenzen), kann man sie nicht als Sonderfälle eines übergeordneten Allgemeinbegriffs verstehen. Ich begreife damit also auch das „Ästhetische“ nicht so, dass es erst einmal einen feststehenden Begriff wie „Schönheit“ oder „Sinnlichkeit“ meinen würde, sondern so, dass sich sein Sinn mit Blick auf Kunst und Design wandelt.
Diese Dialektik müsste man in anderer Weise auch für verschiedene Bereiche des Designs noch einmal durchspielen: Wie gewinnt das ästhetische Funktionieren bzw. die ästhetische Form der praktischen Welterschließung etwa im Grafikdesign eine andere Kontur als im Industriedesign, im Textildesign oder im Interaktionsdesign? Als ersten Versuch einer Antwort auf Deine Frage denke ich, dass wir einerseits auch mit Blick auf die Gestaltung von Plakaten davon sprechen müssen, dass sie bestimmten Zwecken dienen; zumeist der Verbreitung von Informationen für eine anonyme, aber dennoch nicht ganz unbestimmte Öffentlichkeit (denken wir an den Unterschied zwischen Plakaten für politische Veranstaltungen und solchen für Konzerte oder Ausstellungen). Ich bin der Meinung, dass man auch hier von einer je spezifischen Formung dessen, was die Plakate kommunizieren, sprechen kann und dass auch solche Zwecke praktisch im jeweiligen Gegenstand konkretisiert werden. Von besonderer Bedeutung sind dabei natürlich Bildlichkeit und Schriftlichkeit, wobei die Schriftlichkeit in vielen Plakaten ihrer Quasi-Unsichtbarkeit, durch die sie beim Lesen einer Zeitung oder Zeitschrift im Regelfall gekennzeichnet ist, entzogen wird und selbst von Verfahrensweisen und Prinzipien der Bildlichkeit informiert ist. Das führt zwar nicht notwendig dazu, dass wir hier von einem radikalen Unterschied zum Industriedesign sprechen müssen. Aber die Zwecke, um die es geht, und die Formen, die hier relevant sind, sind natürlich meistens andere. Und das könnte vielleicht eine andere Geschichte des Designs gegenüber den üblichen Genealogien aus dem Geiste der Industrialisierung nahelegen.
Lieber Daniel,
damit hast Du das Programm für unsere Diskussion abgesteckt, und für das weitere Vorgehen scheint es mir nicht unerheblich zu sein, an den übergeordneten Zusammenhang zu erinnern, der der Grund für dieses Gespräch ist. Denn mit dem Website-Projekt Grafikdesign Denken Sprechen geht es im Grundsatz um die Frage nach dem Sammeln von Grafikdesign und in der Konsequenz auch um sein Vermitteln und Ausstellen. Das Thema sind also die Kriterien, die im Rahmen eines Museums angelegt sind, dessen Sammlungsidentität sich in der sogenannten Gebrauchskunst verankert.
Vgl. https://grafikdesigndenkensprechen.com: Warum führt das Museum Angewandte Kunst Frankfurt und seine Abteilung „Buchkunst und Grafik“ diesen Diskurs? und Eine digitale Plattform zu Grafikdesign von angewandter bis freier Kunst.
Dein Ansatz, das Ästhetische über den Wandel der Rollen von Design und Kunst anzugehen, kommt daher dem konkreten Kontext des Museums und seiner Entwicklung vom Museum für Kunstgewerbe (ab 1877) zum Museum für Kunsthandwerk (ab 1936) und zum Museum für Angewandte Kunst (ab 2000) sehr entgegen. Die Perspektive des „Wandels“ erlaubt, die Problematik des zukünftigen Sammelns im Bereich Grafikdesign aus dieser Dynamik heraus zu denken, statt einfach weiter nach dem Modell der materialgebundenen Gattungen des 19. Jahrhunderts – illuminierte Handschriften, Buchdruck, Bucheinbände, Stammbücher oder Vorlagengrafik als Ornamentstiche – zu verfahren.
Wenn wir also über das Sammeln von Grafikdesign in einem Museum sprechen, das unter dem Namen „angewandte Kunst“ firmiert, kommen wir aus den vergangenen Einordnungen nicht so einfach heraus. Konkret ist die Situation so, dass Grafikdesign erst dann zu einem offiziellen Sammlungsschwerpunkt geworden ist, nachdem sich das Museum vom Museum für Kunsthandwerk zum Museum für Angewandte Kunst, heute Museum Angewandte Kunst Frankfurt, umbenannt hat. Dieser Neuausrichtung geht eine Erweiterung der Museumssammlung um den Bereich Industriedesign in den 1990er-Jahren voraus. Eine eigene Abteilung – die Designabteilung – wurde gegründet. Der Unterschied, den diese Erweiterung gegenüber dem Kunsthandwerk markiert, ist die maschinelle Produktionsweise, bei der Entwurf und Ausführung nicht in einer Hand liegen und die hohe Stückzahlen nach sich ziehen kann. Dagegen versteht sich ja Kunsthandwerk als die Fertigung von Unikaten nach eigenen Entwürfen im Sinne des Authentischen. Dabei lässt es die praktische Benutzbarkeit der Objekte in künstlerische Formfragen übergehen und sich dabei auch vom Ornament lösen.
Eva Linhart: „Abenteuer Kunsthandwerk“, ein bisher unveröffentlichter Katalogbeitrag zur Ausstellung „Kunsthandwerk ist Kaktus“, Museum Angewandte Kunst Frankfurt, der voraussichtlich im Oktober 2021 erscheinen wird.
Zudem positioniert sich Kunsthandwerk seit dem 19. Jahrhundert antiindustriell. Dieser produktionsideologische Ansatz prägte das Sammlungsverhalten des Museums in der Zeit zwischen 1936 und 2000 und wird heute von der Abteilung „Europäisches Kunsthandwerk vom Mittelalter bis in die Gegenwart“ im Gegenüber von außereuropäischen Sammlungen abgedeckt. Die Abteilung „Buchkunst und Grafik“, die wiederum erst in den 1920er-Jahren an das damals noch unter dem Namen des Kunstgewerbes firmierenden Museums hinzukam, ist in den bibliophil ausgerichteten Sammlungen der Brüder Linel verankert.
Eva-Maria Hanebutt-Benz: Ornament und Entwurf. Ornamentstiche und Vorzeichnungen für das Kunsthandwerk vom 16. bis zum 19. Jahrhundert aus der Linel-Sammlung für Buch- und Schriftkunst, Museum für Kunsthandwerk Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1983, ISBN 978-3-88270-021-1, S. 179–192; Stefan Soltek: „Michael und Albert Linel – In Anbetracht von Buch“. In: Erlesen Gestiftet. Die Stiftung der Gebrüder Linel in der Buchkunst- und Graphiksammlung des Museums für Kunsthandwerk Frankfurt am Main, Ausstellungskatalog, Frankfurt am Main 1991, ISBN 978-3-87654-322-1, S. 8–17; Eva Linhart: „Vom Stammbuch zum Souvenir d’amitié. Deutscher Schicksalsfaden“. In: Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken, Ausstellungskatalog, Köln 2006, ISBN 978-3-87909-892-1, S. 201–242.
Grafikdesign als Kommunikationsdesign nun einfach dieser Sammlung aus Kunstgewerbe und Kunsthandwerk europäisch und außereuropäisch additiv hinzuzufügen und eine Kontinuität unter technisch veränderten Produktionsbedingungen zu suggerieren, würde der Rolle des Museums, nämlich Entwicklungen aktuell zu reflektieren und zu repräsentieren, nicht entsprechen. Daher meine Frage nach der Bildlichkeit von Grafikdesign. Denn diese unterscheidet sich von den autonomen Kunstansprüchen der bildenden freien Kunst aufgrund ihrer Intentionalität; andererseits ist es auch die Bildlichkeit, die als Kommunikationsdesign eben nicht der praktisch-tektonischen Funktion im Sinne des Industriedesigns folgt. So unterstehen die kommunikationsbezogenen Schrift-, Bild- oder Farbkonstellationen des Grafikdesigns und ihre materiellen Träger anderen Rezeptionsbedingungen als Industriedesign.
Liebe Eva,
ich möchte hier einige Fäden der aktuellen Diskussion aufgreifen. Die Debatten zum Unterschied von Kunsthandwerk und Design werden in jüngerer Zeit auch in der Ästhetik geführt. Neben der Bildlichkeit will ich kurz die ontologische Dimension ansprechen, die in Deinen einleitenden Bemerkungen mit der Redeweise vom „Unikat“ anklingt. Die Ontologie, die zu Unrecht, wie ich meine, derzeit in einigen ästhetischen Debatten keinen so guten Leumund hat, beschäftigt sich schlicht mit der Frage, auf welche Weise die ästhetischen Gegenstände jeweils existieren. Dass das alles andere als eine Debatte im Elfenbeinturm der Philosophie ist, lässt sich daran ersehen, dass auch Fragen des Schutzes des geistigen Eigentums und mittelbar die Rechtsprechung in diesen Fragen davon abhängt, nämlich von der Frage, was eigentlich das Werk ist und ob es (wie im Fall klassischer Arten der Malerei) in Form eines einzelnen raumzeitlichen Gegenstandes fälschbar ist oder eben nicht (wie im Fall herkömmlicher abendländischer Kunstmusik, da das Werk hier weder mit der Notation einer Partitur noch mit den einzelnen Interpretationen identisch ist). Dass dieser Punkt auch mit Blick auf das Design erklärende Kraft haben kann, lässt sich daran ersehen, dass ich einen Designgegenstand selbst nicht schon dadurch zerstört habe, wenn ich mein Exemplar – etwa durch einen Unfall – vernichtet habe. Das scheint mir im Fall des Kunsthandwerks etwas anders zu sein; auch wenn es da nicht immer Unikate gibt, gibt es doch eine endliche Anzahl von Exemplaren, die zudem in vielerlei Hinsicht aufgrund ihrer händischen Produktion voneinander abweichen. Die Spuren der Hand sind sozusagen an der Existenzweise der Gegenstände abzulesen, wohingegen es im Design möglich ist, potenziell beliebig viele Gegenstände aus der Designvorlage zu produzieren. Selbst wenn man, um sofort ein Gegenbeispiel aufzugreifen, mit einer kalkuliert endlichen Menge von Drucken einer Vorlage operiert (wenn etwa eine endliche Anzahl von Plakaten vom Designer bzw. von den Designer:innen signiert werden oder wenn diese endliche Anzahl dadurch zustande kommt – wie es mein Kollege an der Kunstakademie Stuttgart, Patrick Thomas, getan hat –, dass eine alte Druckmaschine nach wenigen Drucken nicht mehr funktioniert (und das Teil der Arbeit wird), gilt: Auch diese Interventionen und Entscheidungen machen nur Sinn vor dem Hintergrund, dass es prinzipiell eine beliebig große Anzahl von Objekten geben könnte.
Nun einige Anmerkungen zur Bildlichkeit. Die Kategorie des Bildes scheint mir tatsächlich, wie Du sagst, eine sehr zentrale Kategorie zu sein, um das Spezifische paradigmatischer Arten des Grafikdesigns in den Blick zu nehmen. Obwohl die Bildwissenschaft nicht zu meinem Feld der Expertise gehört, habe ich den Eindruck, dass dort ein Grundgedanke prägend ist: Bilder müssen in ihrer Produktivität gewürdigt werden, sowohl mit Blick auf die gesellschaftlichen Diskurse, die sie in der Art und Weise ihres Darstellens reproduzieren und verschieben, als auch – und hier vielleicht für uns wichtiger – schlicht mit Blick auf das, was sie darstellen. Nelson Goodman hat, zu Recht wie ich meine, darauf hingewiesen, dass Bildlichkeit mit Ähnlichkeit nichts zu tun hat, sondern mit Bezugnahme. Und im Grafikdesign besteht diese Bezugnahme darin, obwohl die Gegenstände des Grafikdesigns im Regelfall klar auch immer unter funktionalen Gesichtspunkten zu beschreiben sind (kommuniziert der Gegenstand das, was er kommunizieren soll? Adressiert er das richtige Publikum? Bis hin zu: Ist die Typografie so gewählt, dass sie noch gut lesbar ist – oder ist eine Unlesbarkeit eine Pointe des entsprechenden Plakats oder Buches?), dass es sich heute aller Register der Bildsprachen bedient, die wir aus dem Kontext der bildenden Kunst vor allem seit Mitte des 20. Jahrhunderts kennen (das ist etwas holzschnittartig, aber die Richtung vielleicht verständlich). Denn im Medium des Plakats etwa wird die Typografie oft ausgehend von einer Logik von Bildlichkeiten gedacht, oder anders gesagt: Gesichtspunkte des Bildlichen werden hier auch für Fragen der Typografie relevant (wie es die Literatur in anderer Weise etwa mit der konkreten Poesie erprobt hat). Umgekehrt ist die Bildlichkeit von Gegenständen wie Plakaten oftmals auch durch typografische Gesichtspunkte informiert. Natürlich muss man auch hier einen angemessenen Blick auf die Unterschiede behalten – Buchgestaltung ist eben noch einmal etwas anderes als Plakatgestaltung. Aber beide können und sind durch bildliche Logiken informiert.
Lieber Daniel,
für diese Problematik ist das Künstlerbuch, das gleichzeitig Medium der Literatur und Ausdrucksform bildender Kunst ist, ein gutes Beispiel.
Eva Linhart: „Buchkunst im Museum“. In: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde, Neue Folge 24, 2015, herausgegeben von Ute Schneider im Auftrag der Gesellschaft der Bibliophilen, München 2015, ISBN 978-3-447-10336-7, S. 147–160; siehe auch dies.: „Michael Riedel. Books as Event“, Beitrag zur Ausstellung „Grafik als Ereignis“. In: Refresh the Book. On the Hybrid Nature of the Book in the Age of Electronic Publishing, herausgegeben von Viola Hildebrand-Schat, Katarzyna Bazarnik und Christoph Benjamin Schulz, Leiden/Boston 2021, S. 463–478.
Deine Schnittstellen dazu finde ich in mindestens zweierlei Hinsicht weiterführend. Zum einen sind mit dem Unikat in Verbindung mit der Kunst (den Künsten) stets auch die Kategorien des Originals und der Authentizität aufgerufen. Dass jedoch die damit einhergehende Überhöhung der „Aura“ durch die maschinelle Vervielfältigung zumindest irritiert ist, ist spätestens seit Walter Benjamins Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit Thema.
Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 2015, ISBN 978-3-518-10028-9.
Zum anderen ist das von Dir angesprochene Urheberrecht zu nennen. Dass es auch für die angewandte Kunst Kriterien wie Schöpfungshöhe, Gestaltungshöhe oder Werkhöhe beansprucht, um damit die Prädikate „Individualität“ und „Originalität“ zu formulieren, ist eine Folge der unaufgearbeiteten Situation dieser anderen Kunst. In Ermangelung einer positiven und spezifischen Darstellung ihrer ästhetischen Leistungsmöglichkeit wird hier versucht, die Kunstwürdigkeit über eine Orientierung an der Genieästhetik im Sinne des Authentischen zu definieren. Oder anders gesagt: Was die „angewandte Kunst“ betrifft, so sind die Kriterien und ihre Bezüge hinsichtlich des Verhältnisses aus Erfindungsleistung und der Übertragung in die Komplexität der Produktionsprozesse leider viel zu diffus, weshalb wir dieses Gespräch nicht zuletzt auch führen.
Wenn wir uns jedoch den angewandten Künsten nicht aus einer produktionsästhetischen, sondern aus einer wirkungsästhetischen Perspektive nähern, dann führt es uns zur Kategorie des Dekorativen, worauf die angewandte Kunst gerne im abschätzigen Sinn festgelegt wird.
Vgl. Gottfried Boehm: „Ausdruck und Dekoration. Die Verwandlung des Bildes durch Henri Matisse“. In: Ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-7374-1303-9, S. 180–198.
Warum ich das hier erwähne, hat seinen Grund darin, dass diese Wirkung als das Dekorative in ihrem Bezug zur Lebenspraxis ja nicht allein von der Keramik in Form von Schalen oder Vasen als Kunsthandwerk in seiner Einmaligkeit ausgeht. Vielmehr betrifft sie eben auch die Wirkung des Designs und so etwa auch den Funktionalismus, der, wenn er auch keine Ornamente direkt einsetzt und diese ideologisch geradezu verabscheut,
siehe Adolf Loos: „Ornament und Verbrechen“, 1908, → online; vgl. auch Barbara von Orelli-Messerli: „Ornament und Verbrechen. Adolf Loos’ kontroverser Vortrag“. In: Verbrechen und Strafe, herausgegeben von Josette Baer und Wolfgang Rother, Basel 2017, ISBN 978-3-906896-02-1, S. 79–95, → online
dennoch sehr wirksam im Sinne des Dekorativen auftritt. Das geschieht über Material- und Farbwerte, über Proportionen und die geometrisierenden Gliederungen nach dem Prinzip des „uneigentlichen“ Ornaments. Die Bildlichkeit von Grafikdesign verfährt da nicht viel anders. Sie ist jedoch insofern zugespitzter, als ihre Erscheinungsformen in der Eigenschaft von Plakaten oder Buchumschlägen oder – allgemein gesagt – in Zusammenhängen, wo es um werbende als verführende und auf den öffentlichen Blick zugunsten der Durchsetzbarkeit ausgerichtete Funktionen geht, besonders pointiert als Erscheinungsformen auftreten können. Grafikdesign verfügt über das Potenzial, den öffentlichen Raum faktisch und medial zu besetzen und auszureizen. Man denke etwa an Fernsehübertragungen von Fußballspielen. Sie sind ein Fest sich überbietender, grafisch gestalteter Bildzeichen und Ereignisse: nicht nur auf der Kleidung der Spieler, sondern auch im Hintergrund auf den Banden als sich stets wandelnde Inszenierung aus Logos und Bildmotiven. Dazu kommt noch die Darbietung des Mediums Fernsehen, bestehend aus dem Logo des Senders, Informationen zum Spielstand und dem sich ein- und ausblendenden Symbol für das Sportereignis in seiner institutionellen Anbindung. Die Gestaltungen in diesem Aufgabenspektrum zielen damit deutlich intensiver auf die Aufmerksamkeit der Rezipierenden via dekorierender Zeichenpräsenz als etwa Textgestaltungen von Gebrauchsanweisungen auf Beipackzetteln oder von Gesetzestexten in Büchern.
Was jedoch die Keramikvase mit der elektrischen Zahnbürste oder mit Plakaten – methodisch betrachtet – vor allem gemeinsam hat, ist das Verhältnis von Momenten, die nicht unmittelbar auf den Benutzungszweck ausgerichtet sind bzw. diesem unterliegen. Ich meine damit solche Momente, die als Bildlichkeiten lediglich mittelbar dem Funktionalen unterstehen: die Wandung einer Vase, deren Glasur nicht zwingend dem Spiel mit Farbeffekten unterliegen muss, um die Oberfläche zu versiegeln, der Griff einer elektrischen Zahnbürste, der keineswegs den türkisen Streifen an der Seite braucht, um die Zahnhygiene zu gewährleisten, oder das Flächenumfeld einer Textinformation, das für ihre Vermittlung nicht notwendigerweise das Pantone-Gelb 13-0647 TCX Illuminating einsetzen muss, auch wenn es die Trendfarbe des Jahres 2021 ist.
Stellen diese Flächen nicht gerade das Potenzial für einen bildlichen Eigensinn als ein Farb-, Form- und Materialspiel zugunsten der eigenen Unverwechselbarkeit, der Individualisierung der Objekte und Ereignisse dar? Dieser „Freiraum“ – wenn denn dieses Moment im Zusammenhang mit dem Funktionalen in Bezug auf das Design so überhaupt zu nennen ist – kann der Absicht einer psychologischen Einflussnahme unterstehen, muss es aber nicht. Wird hier nicht auch eine ästhetische Praxis wirksam, in deren Rahmen – wie Du es nennst – das Funktionieren selbst ästhetisch wird?
Liebe Eva,
Deinen Anmerkungen zur durchaus nichteinheitlichen ontologischen Klassifikation der „angewandten Künste“ und der Bemerkung, dass hier vieles nicht geklärt ist, kann ich gut folgen. Die kunstontologischen Debatten halten sich dabei von einer re-Auratisierung fern; sie betonen schlicht die Unterschiedlichkeit, die auch eine Rolle in unseren ästhetischen Beurteilungen über sie spielt.
Zum Themenkomplex des Dekorativen fällt mir spontan die gemessen an Deinen Anmerkungen heterodoxe Agenda Gadamers ein. In seiner Kritik des ästhetischen Bewusstseins führt er ja gerade das Dekorative als positives Gegenmodell an: als Verständnis eines Ästhetischen, das einen robusten Sitz in unserem Leben hat. Auch wenn mir seine Kritik am „ästhetischen Bewusstsein“ manchmal etwas holzschnittartig und nicht immer fair zu sein scheint: Er hat hier einen Punkt. Und auch sein Bildbegriff in diesem Kontext scheint mir interessant, wenn er sagt, dass selbst okkasionelle Bilder nicht einfach Abbilder sind, sondern an ihrer Vorlage etwas sehen lassen, wie die Vorlage selbst gewissermaßen bildlich geworden sein muss, damit sie überhaupt derart dargestellt werden kann.
Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, ISBN 978-3-16-145613-8, S. 139 ff.
Wenn ich Deine weitergehenden Bemerkungen zum Dekorativen richtig verstehe, geht es Dir auch um die Frage, wie sich das Ornament anders denken ließe, jenseits der Alternative, es als etwas zu begreifen, das entweder Funktionalität äußerlich ist oder aber so, dass der Gegenstand selbst gewissermaßen ornamental wird; das finde ich einen wichtigen Punkt. In der Tat würde ich – eine Dimension, die in meinem Buch etwas zu kurz gekommen sein mag – nicht allein auf das Moment der Individualisierung verweisen, sondern auch auf den Aspekt, dass unsere Gestaltungen nicht notwendig sind; in den Gestaltungen des Designs zeigt sich die Gestaltbarkeit der Welt.
Den Verweis auf den Freiraum finde ich entsprechend sehr wichtig: Wenn wir einer bestimmten Lesart des klassischen Funktionalismus folgen, die besagt, dass es nur eine Formlösung für eine funktionale Aufgabe gibt, ist das nicht nur empirisch falsch; es ist letztlich auch eine ideologische Beschreibung – so als sei es die Funktion selbst, die uns vorschreiben würde, was wir bitte schön zu tun haben. Auf der anderen Seite ist es aber auch so, dass die ideologiekritische Verabschiedung des Funktionalismus selbst ideologisch sein könnte. Meine Maxime ist immer: Überlass deinem „Gegner“ nicht die Begriffe, sondern expliziere sie auf eine Weise, dass sie gegenüber naheliegenden Einwänden verteidigt werden können.
Genau das war der Gedanke, warum ich für einen ästhetischen Funktionalismus plädiert habe. Die Herausforderung für einen angemessenen Begriff des Designs liegt meines Erachtens nämlich – wenn wir sagen, Designgegenstände sind im Regelfall für etwas Bestimmtes in unserer Praxis da – darin, ihre Bezogenheit auf Zwecke so mit ihrer Ästhetik zusammenzubekommen, dass Ästhetik und Funktion nicht als einander fremde Hinsichten der Beurteilung zu begreifen sind. Dass die Funktionen selbst im Design ästhetisch werden, heißt also nicht, dass ich sie im Medium einer sinnlichen Erfahrung unbedingt den Gegenständen selbst ansehen kann; es heißt, dass jeder Designgegenstand eben eine konkrete Herausarbeitung der in Frage stehenden Funktion ist. Deswegen ist für mich Design nicht weniger als die Kunst eine offene und ungesicherte Praxis. Auch wenn ich weiß, dass es am Ende ein Plakat werden soll, so muss ich das doch erst gestalterisch konkretisieren; hier kann ich mich auf alle möglichen Fähigkeiten verlassen (und man sieht den Gegenständen dann oft doch an, ob sie aus erfahrener Hand sind oder nicht), aber diese Fähigkeiten sind derart ungesichert, dass sie sich immer wieder neu mit Blick auf jeden Gegenstand konkretisieren müssen. Als Versuch einer Zuspitzung: Designer:innen tun nicht immer dasselbe in anderer Weise, sondern tun immer anderes in derselben Weise.
Lieber Daniel,
dass es nicht um eine re-Auratisierung geht bzw. nicht gehen kann, finde ich entscheidend. Dazu ist jedoch anzumerken, dass die angewandten Künste im Unterschied zur autonomen Kunst davon viel weniger betroffen waren und sind. Als die nicht freien Künste in ihrer Bindung an den Gebrauchszweck haben die angewandten Künste den Status der nicht richtigen Kunst. Ihre Benutzungsbestimmung bedingt ja gerade einen „Mangel“ an Aura. Genau dieser Mangel an Aura fordert umgekehrt heraus, die Frage nach den Kriterien für ihre Kunstwürdigkeit zu stellen.
Ich finde Deinen Ansatz deswegen so bemerkenswert, weil er mit dem Gebrauchszweck – eine im Hinblick auf die Kunstautonomie antikünstlerische Kategorie – produktiv umgeht. Statt den Gebrauchszweck im Hinblick auf seine ästhetische Relevanz als ein Moment, der außerhalb des Ästhetischen liegt, quasi auszugrenzen, integrierst du ihn substantiell. Deine Ausdeutung durchbricht in ihrer Konsequenz die hierarchische Abhängigkeit von „der“ Kunst und schafft eine eigenständige Betrachtung von Design.
Mein Verweis auf das Dekorative hat genau damit zu tun. Hierbei ziele ich, wie du vermutest, jedoch nicht auf die Verbindung des Dekorativen zu den Ornamenten in ihrer Dimension, den Gebrauchszweck zu schmücken, wie wir es dem Kunstgewerbe zuordnen. Das wäre tatsächlich ein Verständnis, das noch von der Vorstellung der Ästhetisierung der Gebrauchsgegenstände über die „hohe“ Kunst geprägt ist und im Begriff der angewandten Kunst als einer Kunst, die anzuwenden sei, aufgehen würde. Vielmehr sehe ich die Bedeutung des Dekorativen darin, sein Potenzial im Hinblick auf die Wirkung zur Lebenspraxis hin und auf seine Wirksamkeit in der Lebenspraxis zu betrachten. Das markiert auch den wesentlichen Unterschied zur Kunst und ihrem Autonomieverständnis in ihrer – wie es Gottfried Boehm beschreibt – „monadischen Selbstversunkenheit“ und in ihrer Bindung an das schöpferische Subjekt.
Gottfried Boehm: „Ausdruck und Dekoration. Die Verwandlung des Bildes durch Henri Matisse“. In: Ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-7374-1303-9, S. 180–198.
Mit der Ausstellung „Give Love Back. Ata Macias und Partner. Eine Ausstellung zur Frage, was angewandte Kunst heute sein kann“ 2014/15 hat das Museum Angewandte Kunst Frankfurt diese Dimension der Wirkung als eine Wechselbeziehung zwischen Designobjekten und Lebensraum zur Diskussion gestellt. Dabei formulierte ich die Hypothese, dass das Dekorative und das Gebrauchen – die beiden Merkmale angewandter Kunst – im Performativen aufgehen. Also dass sich die Objekte der angewandten Kunst erst im Bezug zum Lebensraum sowie seinen Kontexten und aus der Interaktion der Benutzung heraus ästhetisch realisieren und so Wirkungen und Intensitäten in Abhängigkeit von Handlungen bedingen. Exemplifiziert habe ich das damals am Handmixer, der sich erst über seinen Aktionsradius etwa beim Teigmischen aus Rotation, Spritzen und Reinigen entfaltet; an einer Vase auf dem Esstisch, die den Raum zentriert, je nach Erscheinung mit oder ohne Blumen, und für das Essen umgestellt werden muss, vielleicht auf eine Konsole, damit man sich gegenseitig sehen und unterhalten kann; und an der Einrichtung eines Shops als Teil der Ausstellung, um das Einkaufen als eine wesentliche Rezeptionsform angewandter Kunst begreifbar zu machen.
Diese Argumentation folgt – so erschließt es sich mir – grundsätzlich Deinem Verständnis von Design als ästhetische Form praktischer Welterschließung oder als „Gestaltbarkeit der Welt“ wie auch Deiner obigen Aussage, „dass die Funktionen selbst im Design ästhetisch werden, heißt […] nicht, dass ich sie im Medium einer sinnlichen Erfahrung unbedingt den Gegenständen selbst ansehen kann“.
Mit der Hypothese des Performativen ging es mir darum, die Wirkung angewandter Kunst nicht auf ein interesseloses Wohlgefallen oder eine Abwesenheit von Sinn zu beschränken, sondern das Dekorative an die Konsequenzen des Gebrauchszwecks zu binden. Wenn ich an Dein Gedankenexperiment unter der Überschrift „Waffen und Werbung“ denke
Daniel Martin Feige: Design. Eine philosophische Analyse, Berlin 2018, ISBN 978-3-518-29835-0, S. 205 f.
– was natürlich eine andere Brisanz als ein Mixer hat –, dann würde unter der Perspektive des Performativen das Dekorative des „Waterboarding-Stuhls“ zwingend zu den Konsequenzen seiner Benutzung – und damit zwangsläufig auch zur ethischen Dimension des mit dem Gebrauchen einhergehenden Handelns – führen.
Die Begriffe des Dekorativen und Performativen verstehe ich lediglich als Platzhalter, um die angewandte Kunst – ebenfalls vom Begriff her nur ein Platzhalter – für Künste, deren gestalterische Formungsmöglichkeiten auf einen Gebrauchszweck in der Lebenspraxis ausgerichtet sind, in ihrer ästhetisch intentionalen Logik und im Hinblick auf ihre praktischen Konsequenzen zu denken. Dies war in seinem hypothetischen Charakter als Gegenentwurf zur herkömmlichen Beschreibung angewandter Kunst – eine Addition aus Funktion und ästhetischem Mehrwert zu sein – gedacht.
Deinem Hinweis auf Gadamer, der eine Überprüfung der „uns gewohnten Unterscheidung des eigentlichen Kunstwerks und der bloßen Dekoration“ fordert, kann ich gut folgen.
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Band 1, Tübingen 1986, ISBN 978-3-16-245089-6, S. 163 f.
Hier ist auch die Charakterisierung des Dekorativen und seine prinzipiell zweiseitige Vermittlung zu finden: sein Vermögen, „die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zu ziehen, seinen Geschmack zu befriedigen, und doch auch wieder ihn von sich wegzuweisen in das größere Ganze des Lebenszusammenhanges, den es begleitet“.
Seinen von Dir erwähnten Aspekt der okkasionellen Bilder (ebd., S.149 ff., sowie Band 2, S. 379 ff.) im Zusammenhang mit dem Dekorativen möchte ich zudem um eine Perspektive Gottfried Boehms erweitern. Dieser verweist im Rahmen seines Plädoyers für eine Rehabilitation des Dekorativen auf Henri van de Velde. Dabei beschreibt er, dass die Aufhebung der Spaltung zwischen Kunst und dem Dekorativen durch den Jugendstil in Gang gesetzt wurde. Die „Gestaltung von Intérieurs, Möbeln und Gebrauchsdingen verdrängte gar das Gemälde in seiner Eigenständigkeit“. Dies bewertet er als einen Vorgang, den sich van de Velde als einen „Ausstieg aus dem Bild“ verordnet habe, und zwar lange vor Duchamp, wenn auch auf eine ganz andere Weise. Die Idee des Schmuckes sei zurückgekehrt und anerkannt worden. Boehm konkretisiert das Verhältnis von Kunst und Dekoration dabei kunstgeschichtlich und qualifiziert die damit einhergehenden künstlerischen Aktivitäten als einen Umwertungsvorgang, bei dem das Dekorative zu einer Öffnung des Bildes auf Lebenskontexte hin führt.
Gottfried Boehm: „Ausdruck und Dekoration. Die Verwandlung des Bildes durch Henri Matisse“. In: Ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-7374-1303-9, S. 180–198, hier S. 181 ff.
Ich erwähne das hier nicht, um das Dekorative in der Dimension des Schmückens an das Grafikdesign heranzutragen. Vielmehr geht es um die Bildlichkeit des Dekorativen, die sich im Verhältnis zu Abbild-Darstellungen in der Tradition der Mimesis (Nachahmung) anders begründet.
Vgl. dazu auch Gottfried Boehm: „Zuwachs an Sein. Hermeneutische Reflexion und bildende Kunst“. In: Ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-7374-1303-9, S. 243–267.
Das ist für das Grafikdesign darum ein entscheidender Aspekt, weil sich seine Bildformung aus dem Konstruieren von Bild- und Schriftlichkeiten als Vermittlungszeichen ableitet. Das beinhaltet auch seine Aktivitäten einschließlich des Vervielfältigungspotenzials und der dynamischen Entwicklung von analogen und digitalen Reproduktionstechnologien, die zu einer Bilder- und Bildlichkeitspräsenz führen und die Lebenspraxis auf die unterschiedlichste und eine zunehmend interaktive Weise prägen.
Im Zusammenhang mit dem Grafikdesign und seinen Erscheinungsbedingungen verstehe ich daher die Verwendung des Begriffs „dekorativ“ als eine nach außen sich wendende, permanente Dynamik der gestalteten Bildzeichen, die in und auf die Welt unter den Vorgaben zielgerichteter Aufgabenstellungen ausgeht und eine bildliche Präsenz im Sinne des „Performativen“ prägt. Also als Bildlichkeiten, die sich tendenziell weder mit sich selbst noch mit dem künstlerischen Subjekt im Rahmen eines White Cube beschäftigen und sich auch nicht auf die Welt nach dem Prinzip einer modellhaften Übertragung beziehen, sondern die daran zu bewerten sind, wie sie den öffentlichen Raum ansprechen, in wessen Auftrag und mit welchen Konsequenzen sie ihn inszenatorisch einnehmen, um welches Handeln auszulösen.
Wie ließe sich das auf Deine Zuspitzung übertragen, dass Designer:innen nicht immer dasselbe in anderer Weise tun, sondern immer anderes in derselben Weise?
Liebe Eva,
zur Unterscheidung von angewandten und freien Künsten denke ich, dass man – im Sinne eines „conceptual engineerings“ – versuchen muss, sie nicht länger in einer wertenden Weise zu verstehen: Angewandte Künste sind nicht deswegen weniger Kunst oder schlechtere Kunst, weil sie mit handgreiflichen Zwecken, Funktionen, Rollen usw. zusammenhängen. Das scheint mir ein Zug zentraler Diskussionen auch in der gegenwärtigen angloamerikanischen Ästhetik zu sein.
(Ich denke da etwa an Saitos Buch zur Alltagsästhetik; vgl. Yuriko Saito: Everyday Aesthetics, Oxford 2007, ISBN 978-0-19-927835-0)
In diesem Sinne stünde neben der Alternative, den Begriff der „angewandten Kunst“ als vorläufigen Begriff zu denken, auch die Option offen, die problematischen Aspekte seiner Deutung aus der Tradition nicht in ihr Gegenteil zu verkehren (das in bestimmten Ecken der Designforschung beliebte Manöver, das Design zum Wesen der Kunst zu erklären, wiederholt ja das Problem und die begriffliche Ungerechtigkeit nur), sondern gewissermaßen das begriffliche Spiel zu ändern. Es ginge dann um zwei Untergattungen der Kunst oder des Ästhetischen, die aber in einem Formunterschied zueinander stehen, nicht in einer Hierarchie.
Deinen Überlegungen zum Dekorativen kann ich gut folgen und Sympathien für performativitätstheoretische Bestimmungen habe ich ohnehin (in meinem Jazzbuch habe ich gewissermaßen eine performative Reformulierung der Kategorie des Werks vorgeschlagen.
Daniel Martin Feige: Philosophie des Jazz, Berlin 2014, ISBN 978-3-518-29696-7, vor allem Kapitel 3.
Eine wichtige Rückfrage an performativitätstheoretische Deutungen ist aber meines Erachtens die Frage nach dem ästhetischen Gegenstand. Das gilt auch für das Design: Auch wenn Designgegenstände und -infrastrukturen oft unthematisch bleiben, bestimmen sie ja den Gebrauch mit; Gebrauch und Gegenstände sind hier gewissermaßen interdependent. Das widerspricht aber Deinen Bemerkungen nicht, sondern ergänzt sie vielmehr.
Eine Rückfrage zu Deinen bildtheoretischen Bemerkungen, denen ich grundsätzlich gut folgen kann: Könnte man hier nicht auch zum einen von einem „erweiterten Bildbegriff“ sprechen und zum anderen davon, dass sich gewissermaßen allgemeinere Bilddiskurse und -strategien analysieren ließen? Das konterkariert natürlich den Punkt, der mir immer wichtig ist, nämlich mit den Gegenständen zu denken; es wäre aber natürlich eine sinnvolle Perspektive, die ihre eigenen Erkenntnisse bereitstellen würde.
Mit Blick auf meine versuchte Zuspitzung ließe sich hier vielleicht sagen, dass gerade das Kommunikations- und Grafikdesign natürlich eine Disziplin des Designs ist, die wie vielleicht keine zweite bildlogisch informiert ist; denken Designer:innen über sich an erster Stelle als Produzent:innen von Bildern nach, ändert sich der Sinn ihrer Praxis. Ein „erweiterter Bildbegriff“, wie ich ihn tentativ mit der Bildwissenschaft nennen möchte, würde dann einen Blick auf die Designpraxis ermöglichen, der zwar das Angewandte, Praktische usw. nicht kappt, aber ein anderes Verständnis dessen zu bieten hätte, was hier gestaltet wird.
Lieber Daniel,
dazu habe ich zwei Fragen.
Erstens: Wenn es darum geht, die Künste der Lebenspraxis aus der Hierarchie zugunsten ihrer Eigenständigkeit zu lösen, wäre dann nicht auch ein anderer Begriff als der einer angewandten Kunst für sie zu prägen? Denn eine Kunst, die angewendet wird, impliziert ja die Abhängigkeit von einer anderen, konsequenterweise „besseren“ oder „eigentlichen“ Kunst. Dazu möchte ich anmerken, dass „Design“ nicht die Alternative sein kann, da das Kunsthandwerk wegen seiner Produktionsbedingung, der Fertigung des Einzelstücks, das Gegenmodell zum Produktdesign ist. Seine Bindung an den Gebrauchszweck lässt jedoch das Kunsthandwerk der angewandten Kunst zuordnen. Zudem ist das Kunsthandwerk seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr daran gebunden, als Handwerk die vornehmliche Produktionsweise für Gebrauchsgüter zu sein, und kann sich daher auch auf Formfragen konzentrieren. Dennoch bleibt der Funktionsaspekt für seine Gestaltung – und zwar im Sinne einer thematischen Formvorgabe – entscheidend.
Zweitens würde mich interessieren, in welcher Weise und inwiefern der „erweiterte Bildbegriff“ ein anderes Verständnis für die Designpraxis zur Folge hätte. Das erscheint mir doch bedeutsam zu sein – zumal wenn wir das auf das Sammeln von Grafikdesign in einem Museum und die notwendige Formulierung von Kriterien beziehen.
Liebe Eva,
zu Deiner ersten Rückfrage denke ich Folgendes: Der Sinn von Begriffen ist ja (mit Wittgenstein gesagt), ausgehend von ihrem Gebrauch in unserer Sprache zu begreifen. In einem solchen Gebrauch können (nicht mehr mit Wittgenstein gesagt) natürlich Diskurse, Hierarchien usw. mitgeschleift werden, sodass philosophische und politische Kritik natürlich immer auch (wenn auch nicht nur) eine Kritik an Begriffen sein muss. Es scheint mir aber ein veritables Manöver zu sein, den Versuch zu unternehmen, Begriffe der Tradition nicht einfach zurückzuweisen: Wir müssen nicht nur (wieder mit Wittgenstein gesagt, genauer seinem Privatsprachenargument) bereits verstandene Begriffe voraussetzen, um neue Begriffe zu bilden, auch eine Kritik kann nicht von außen, sondern muss von innen kommen. In einem etwas freihändigen Rückgriff auf Derrida könnte man mit ihm sagen: „Es ist sinnlos, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, wenn man die Metaphysik erschüttern wird. Wir verfügen über keine Sprache – über keine Syntax und keine Lexik –, die nicht an dieser Geschichte beteiligt wäre. Wir können keinen einzigen destruktiven Satz bilden, der nicht schon der Form, der Logik, den impliziten Erfordernissen dessen sich gefügt hätte, was er gerade in Frage stellen wollte.“
Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, aus dem Französischen von Rodolphe Gasché und Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1972, ISBN 978-3-518-07443-5, S. 425.
Hier geht es natürlich nicht um Metaphysikkritik, aber ich denke, worauf ich mit diesem Zitat hinauswill, ist klar: Man entkommt bestimmten Entscheidungen nicht so leicht, wie man zunächst glaubt. Eine gute Maxime ist danach zu fragen, in welcher Weise die vermeintlichen Alternativen noch von dem bestimmt sind, wozu sie eine Alternative sein möchten. Das heißt nun natürlich nicht, dass Begriffe wie „angewandte Kunst“ oder „Design“ unverhandelbar wären. Ich denke aber, es ist ein aussichtsreiches Vorhaben, zu schauen, wie weit man bestimmte Begriffe gewissermaßen gegen den ersten Anschein ihres Sinns bürsten kann, ohne dass sie kollabieren. Solch ein Vorhaben habe ich unter anderem in meinem Designbuch verfolgt: Wie können wir den Begriff des Ästhetischen explizieren, damit er weder auf das Andere des Funktionalen des Designs noch auf den Effekt des Funktionalen beschränkt bleibt? In diesem Sinne scheint mir nicht ausgemacht, wie es um die Brauchbarkeit der entsprechenden Begriffe steht. Und es scheint mir durchaus möglich, den Begriff der angewandten Kunst gerade gegen die hierarchisch-normative Lesart zu verteidigen bzw. diese Lesart kritisch gegen sich selbst zu wenden.
Zu Deiner zweiten Rückfrage: Ich habe erst einmal versucht, Deine interessanten Bemerkungen in einem etwas erweiterten Kontext zu verorten. Was es im Detail heißen könnte, die Bildlichkeit des Grafikdesigns, die ja in vielen seiner Dimensionen handgreiflich ist, nicht länger allein aus der Angewandtheit, Funktionalität, dem Praktischen zu denken, da bin ich mir selbst überhaupt nicht sicher bzw. man könnte die Frage stellen: Was würde es für die Debatten um den erweiterten Bildbegriff heißen, sie noch einmal ausgehend von der Logik des Designs und nicht der Logik der Kunst aufzurollen (im Sinne der Unterscheidung meines Designbuchs)?
Lieber Daniel,
zu Deiner schönen Analyse möchte ich abschließend noch anfügen, dass Deine Verwendung des Plurals – angewandte Künste – bereits ein Verhandlungsangebot darstellt, die autonome Kunst als „die“ Kunst im Singular zugunsten der Vielfalt der Lebenspraxis zu relativieren. Dazu passt auch wunderbar Deine letzte Anregung, die „erweiterte Bildfrage“ von der Logik des Designs aus zu reflektieren. Das ist auf jeden Fall anzugehen. Das Thema verlangt nach einer Fortsetzung. Daher möchte ich Dir nicht nur sehr für unseren E-Mail-Austausch danken und dafür, dass Du Dich darauf eingelassen hast, sondern würde ihn auch gerne mit Dir in einer direkteren Form bei einer anderen Gelegenheit weiterführen.
Liebe Eva,
diese Relativierung scheint mir notwendig und ist auch das, was gerade vor allem in der angloamerikanischen Diskussion und mittlerweile auch in der deutschen Debatte passiert; da wird immer mehr gesehen, dass viele relevante ästhetische Gegenstandsbereiche nicht in den Blick kommen, wenn man Ästhetik auf Kunstphilosophie eingrenzt, und genauso wenig, wenn man sie als besondere Erfahrungs- oder Urteilsmodalität begreift, die nicht von den spezifischen Arten von Gegenständen informiert ist, an denen sich diese Urteile betätigen und von denen sie Erfahrungen sind. All das sollte uns, meine ich, nicht dazu verleiten, die besondere Kraft und Rolle, die die autonome Kunst in unserem Leben spielt, zu depotenzieren. Es sollte aber den Blick darauf lenken, dass das Feld relevanter ästhetischer Gegenstände viel weiter ist als das, was unter den Begriff der freien Künste fällt. Und in diesem Feld, das wir ja etwas zu erkunden versucht haben, stellen sich noch einmal spezifische Fragen wie diejenige nach dem Unterschied von Produktdesign und Grafikdesign – und für Letzteres könnten spezifische Bildlogiken eine besondere wie besonders markante Rolle spielen.
Daniel Martin Feige ist seit 2018 Professor für Philosophie und Ästhetik in der Fachgruppe Design an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. 2018 war er Gastprofessor für Designtheorie an der Burg Giebichenstein Halle, von 2015 bis 2018 Juniorprofessor an der Kunstakademie Stuttgart und von 2009 bis 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 626, „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“, an der Freien Universität Berlin. Die Promotion erfolgte 2009 an der Goethe-Universität in Frankfurt (mit einem Buch zu Hegels Kunstphilosophie), die Habilitation 2017 (zur Ästhetik) an der Freien Universität Berlin. Er forscht und veröffentlicht an der Schnittstelle von Themen der philosophischen Ästhetik, der theoretischen und praktischen Philosophie und der Kulturphilosophie. Jüngste Herausgeberschaften und Monografien: Die Natur des Menschen. Eine dialektische Anthropologie (Berlin: Suhrkamp, erscheint im Dezember 2021); Die Kunst und die Künste. Ein Kompendium zur Kunsttheorie der Gegenwart (hrsg. zus. mit Georg W. Bertram und Stefan Deines, Berlin: Suhrkamp, erscheint im November 2021); Musik und Subjektivität (hrsg. zus. mit Gesa zur Nieden, Bielefeld: Transcript, erscheint im Dezember 2021); Musik für Designer (Stuttgart: AV Edition, 2021); Philosophie des Designs (hrsg. zus. mit Florian Arnold und Markus Rautzenberg, Bielefeld: Transcript, 2020); Design. Eine philosophische Analyse (Berlin: Suhrkamp, 2018).
Eva Linhart ist Kunstwissenschaftlerin, leitet die Abteilung „Buchkunst und Grafik“ am Museum Angewandte Kunst Frankfurt am Main und ist Initiatorin des Projekts Grafikdesign Denken Sprechen.